Der vernichtete Regenwald hat noch keinen Preis, aber die Kosten der Wiederherstellung sind berechenbar Zwei riesige Hallen, meterhoch gestapelte Obst- und Gemüsekisten, Gabelstapler fahren Paletten im Akkord MISEREOR fordert eine Reform der Unternehmensbilanz als Grundlage für eine gerechtere Preisgestaltung tigkeitskriterien. „Die tun sich aber noch schwer, diese Kriterien in Zahlen zu übersetzen. Dazu braucht es Vorreiter“, – im Verbund mit vielen großen: der WHO, den Gremien der EU, den Versicherern. „Die Nachhaltigkeit bricht aus der alten grünen Blase aus und taucht ein in die DNA des Wirtschafts- und Finanzlebens. Es ist gut, dass MISEREOR in Deutschland an dem Thema dran ist.“ Engelsman nennt sich „ganz klar mission-driven“, also angetrieben von einer Mission. „Wo ein Wille ist, ist auch ein Umweg“, erklärt er, „in einem Zeitungsinterview habe ich neulich gesagt: ‚Albert Heijn fürchtet sich vor Transparenz, wenn es um den Einfluss auf Mensch und Erde geht.‘ Nachhaltigkeit fängt aber mit Transparenz an.“ Die Supermarktkette Albert Heijn ist so was wie der REWE der Niederlande. „Die Firma hat mich daraufhin eingeladen. Wir hatten sehr konstruktive Gespräche.“ Aber nach welcher Weltformel berechnen sich die wahren Kosten? „Natur und menschliche Werte lassen sich nur bedingt in Zahlen ausdrücken“, sagt Engelsman. „Die Natur lässt sich nicht berechnen. Berechnen kann man aber wohl, was es kosten würde, den Schaden an der Natur wieder zu reparieren. Ebenso wenig lässt sich Bodenfruchtbarkeit berechnen. Aber der organische Stoff im Boden ist ein Fußabdruck von Bodenfruchtbarkeit. Die FAO hat dazu eine Berechnungsformel erstellt, mit der man feststellen kann, wie viel es kosten würde, diesen organischen Stoffgehalt wiederherzustellen. Wir verlieren laut FAO 30 Fußballfelder an fruchtbarem landwirtschaftlichen Böden pro Minute – zwölf Millionen Hektar pro Jahr – als Folge von intensiver Landwirtschaft und Viehhaltung. Wer soll das bezahlen?“ Auch für Wasser lassen sich die Kosten berechnen. Das ‚Water Foodprinting Network‘, eine internationale Denkfabrik, habe nachvollziehbare Formeln entwickelt, Verschmutzung zu messen und zu berechnen. Bislang geht es noch so: Trinkwasseraufbereitung durch Herausfiltern von Pestiziden und Nitraten kostet etwa in Frankreich 1,5 Milliarden Euro jährlich. Dies zahlen nicht die Verursacher, sondern Unbeteiligte über den höheren Wasserpreis. Oder unser Gesundheitssektor: 60 Prozent der Krankheitskosten, sagt Engelsman, ließen sich in den Niederlanden heute auf ungesunde Ernährung zurückführen, durch kontaminierte Billigprodukte. Auch die Fleischpreise seien zu niedrig in Anbetracht der durch Viehhaltung verursachten Umweltschäden, wie dem Anbau von Futtersoja auf gerodeten Regenwäldern oder dem Verlust an Bodenfruchtbarkeit und Biodiversität durch gigantische Monokulturen und Klimaschäden durch Treibhausgase und Güllebelastung. Wie Engelsman sieht auch MISEREOR-Fachreferent Markus Wolter, studierter Agrarwissenschaftler und ehemaliger Biolandwirt, „eine unglaubliche Dynamik“ bei der Entwicklung hin zur Erfassung der wahren Kosten. Vorsichtiger formuliert Martin Schüller von Fairtrade Deutschland: Institutionen seien „sehr beharrlich“, aber: „Mittlerweile gibt es viele Unternehmen, die die Problematik verstehen und erste Schritte gehen. Und welchen Druck die Banken neuerdings machen, das hätte ich noch vor fünf Jahren nicht für möglich gehalten.“ Wie aber lassen sich externe Kosten einer einzelnen Frucht zuordnen? „Alle vorhandenen Daten umgerechnet“, sagt Engelsman, „kommen wir bei Eosta zum Ergebnis, dass Bioäpfel um 19 Cent pro Kilo weniger giftig sind als konventionelle Äpfel.“ Damit ist gemeint, dass in konventionellen Äpfeln gesundheitsschädigende Rückstände etwa aus Agrochemie und Pflanzenschutzmitteln enthalten sind, deren Schadenswert sich laut einer vergleichenden Umrechnung mittels Formeln, die die WHO zur Verfügung stellt, auf 19 Cent pro Kilo errechnet. „Das alles ist nur der Anfang. Aber das Puzzle wächst. Und die Entwicklung ist rasant.“ 30 EINS2022
Märkte reagieren sehr sensibel auf Zukunftserwartungen Markus Wolter von MISEREOR setzt auf die Erweiterung der Unternehmensbilanzierung um True Cost-Indikatoren: „Dann wächst einerseits der Legitimationsdruck von Unternehmen durch Investoren und in der Öffentlichkeit und andererseits könnten Unternehmen steuerlich bessergestellt werden, die eine gute ökologische und soziale Bilanz aufweisen.“ Agrarökonomen der Hochschulen Augsburg und Greifwald haben beispielhaft gerechnet: Bereits bei vier untersuchten Kategorien externer Kosten, etwa Emissionen und Ressourcenverbrauch, ergeben sich erstaunliche Differenzen im Vergleich zum jeweiligen Marktpreis: Für Milch sind es +30 Prozent bei biologischer, aber mehr als +70 Prozent bei konventioneller Erzeugung – das heißt, der Unterschied zwischen bio und konventionell erzeugten Lebensmitteln fiele deutlich geringer aus. Für Gouda sind es +33 Prozent bei biologischer Erzeugung und +88 Prozent für konventionell hergestellten Gouda. Den größten Unterschied gibt es bei Fleisch aus Intensivtierhaltung: Das bekäme einen Aufschlag von über 170 Prozent. Vieles fehlt in dieser Rechnung noch: etwa das Tierwohl, weil es sich schwer in Zahlen messen lässt. Auch das Wohl der Landarbeiter im Globalen Süden fehlt, etwa in Form angemessener Löhne. Auch über den Einsatz von Pestiziden gibt es keine verlässlichen Daten, sicher ist nur: Es käme voraussichtlich ein weiterer großer Aufschlag für Produkte aus intensiver Landwirtschaft dazu. Bedeutet das, dass alle Lebensmittel teurer werden? Nicht unbedingt: Kostenwahrheit ist am Ende günstiger als der Status quo. Denn Schäden wie die Erderhitzung kommen der Allgemeinheit auf Dauer teuer zu stehen und sind in ihren Auswirkungen für die Menschheit kaum zu kontrollieren. Die Politik müsse daher Das Unternehmen Eosta ist Vordenker für eine gerechtere Preisberechnung gleiche Rahmenbedingungen für alle Akteure schaffen, so Markus Wolter von MISEREOR, zum Beispiel über eine Über den Einsatz von Pestiziden gibt es noch keine verlässlichen Daten, um sie einzupreisen Reform der Unternehmensbilanz. Als Grundlage für eine gerechtere Preisgestaltung, die diejenigen belohnt, die möglichst hohe Schutzleistungen für Umwelt und Soziales erbringen. Für ökonomisch schwächere Bürger müsste es finanzielle Unterstützung geben, um die gerechteren Preise auszugleichen. „Die Sache duldet keinen Aufschub“, sagt True-Costs-Forscher Tobias Gaugler von der Uni Nürnberg. Schließlich sei die Landwirtschaft für ein Viertel der weltweiten Treibhausemissionen verantwortlich, damit für einen Teil der Erderhitzung und somit auch für deren Folgen wie Flutkatastrophen von Ahrweiler bis Mumbai oder brennende Wälder wie zuletzt in Südeuropa oder Australien. Längst ließen sich, so Volkert Engelsman, „alle Klimaschäden auf CO 2 -Äquivalente umrechnen, ob Methangas und Lachgas in der Viehhaltung oder Kunstdünger. Wenn wir das nicht tun, müssen es unsere Kinder einmal zahlen. Irgendwann kommen die Kosten zurück.“ Und dann sind sie für alle höher. Bernd Müllender lebt als freier Journalist und Autor in Aachen. Er schreibt für die taz, Die Zeit, Publik-Forum, Süddeutsche Zeitung und andere. Vor Kurzem ist sein erster Roman über die Mühen der Verkehrswende erschienen, in dem er den Radentscheid Aachen wirklichkeitsnah weitergedacht hat: „Die Zahl 38.185. Ein Fahrrad-Roman aus der Autostadt Aachen“. EINS2022 31
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