Über Abfall, Recycling und den Goldstandard nachhaltigen Wirtschaftens Text von Annette Kehnel Illustration von Kat Menschik edes Mal, wenn ich in den Keller gehe, weht mir eine Aura des Vorwurfs entgegen: Der Toaster, die alte Schleifmaschine und der Kindersitz – all diese Dinge rotten in den Ecken vor sich hin und strahlen eine gewisse Traurigkeit aus. Sie sind nutzlos geworden, obwohl sie eigentlich noch einsatzfähig sind. Es fehlt nicht viel. Den Toaster zog ein Kurzschluss aus dem Verkehr, der Schleifmaschine fehlt ein Aufsatz und der Kindersitz bräuchte lediglich eine neue Schnalle am Fixiergurt. Das alles und noch viel mehr lagert als ungenutzte Ressource in Tausenden von Kellern und Dachböden. Es wäre ein leichtes, die Funktionsfähigkeit all dieser abgestellten Geräte wiederherzustellen – jedenfalls für jemanden, der sich damit auskennt. Klar, ich könnte das auch selbst in die Hand nehmen, schließlich gibt es Tutorials für alles Wissen der Welt auf YouTube. Es gibt Repair Cafés. Und es gibt einen Kundenservice, der eventuell sogar weiterführt als in ewige Warteschleifen. Aber ich bin weder Heimwerkerin noch Bastlerin und für dudelnde Kunden- Hotlines fehlt mir die Geduld. Außerdem habe ich keinen Toaster gekauft, weil ich für mein Leben gern Toaster repariere. Sondern um ihn zu benutzen. Das würde ich auch gern weiterhin tun. Wieso lasse ich es mir dann gefallen, dass er stattdessen aussortiert im Keller landet, bis endlich jemand Zeit findet, ihn als Elektroschrott zu entsorgen? Wieso lassen wir uns eigentlich alle gefallen, dass die Verantwortung für Reparatur und Wiederverwertung gänzlich bei denen landet, die ein Produkt erstehen und nicht bei den Produzenten? Die Unternehmen lassen ihre Geräte billig im Ausland herstellen, verkaufen sie mit Gewinn im Inland und delegieren Reparatur und Entsorgung an Verbraucher*innen und Kommunen. Ist das eigentlich fair? Muss das überhaupt so? Könnten wir nicht auch ganz anders? Wegwerfgesellschaften sind historisch betrachtet kurzfristige Ausnahmephänomene. Klar, es gab immer Abfälle in den letzten 300.000 Jahren Menschheitsgeschichte, doch lange lag eine Stärke der Menschheit in ihrer Fähigkeit zur möglichst lückenlosen Nutzung der Ressourcen, die ihr zur Verfügung standen. Wegwerfen bedeutete Verzicht. Verzicht auf vorhandene Werte. Verzicht auf Erträge bereits investierter Energie. Unsere Vorfahren waren viel zu intelligent für so viel Verzicht. Was wir heute Kreislaufwirtschaft nennen, war historisch gesehen über Jahrtausende der Goldstandard erfolgreichen Wirtschaftens. 46 EINS2022
Das Stichwort Abfall, im heute geläufigen Sinn als nicht weiterverwertbarer Rest, tauchte bis ins frühe 20. Jahrhundert in den Wörterbüchern gar nicht auf. Ich schlage nach in Zedlers Universallexikon aller Wissenschaften aus dem Jahr 1732: Dort bedeutet Abfall Treuebruch. Man kann zum Beispiel vom Staat abfallen oder vom Glauben. Ein Lexikon aus dem Jahr 1773 definiert Abfall als „das, was bei der Arbeit abfällt und in die Krätze geht“, also weiterverwertet wird. Noch in Meyers Konversationslexikon aus dem Jahr 1870 heißt es, dass sich bei der Fertigung Abfälle ergeben, die der weiteren Verarbeitung zugeführt werden und den Gegenstand weiterer Industriezweige bilden. Der Verfasser einer wirtschaftswissenschaftlichen Dissertation aus dem Jahr 1914 schlägt sogar vor, die Fähigkeit zur Weiter- und Wiederverwertung als Gradmesser der Fortschrittlichkeit einer Volkswirtschaft anzusetzen. Erst in den 1970er Jahren erklären Wörterbücher den Abfall in Haushalten, Büros und Fabriken als geringwertigen Rest. Der Hinweis auf Weiterverwertung taucht gar nicht mehr auf, stattdessen steht die Abfallbeseitigung im Zentrum. Man spricht vom „50er Jahre Syndrom“. Es ist die Zeit des Wirtschaftswunders, gefolgt von der Flutung der globalen Märkte mit billigem Öl. Die Rohstoffpreise fallen und damit der Wert der Produkte, zu denen sie verarbeitet werden: Die Geburt der Wegwerfgesellschaft. Sämtliche Kulturtechniken der Wiederverwertung gerieten seitdem, zumindest bei uns, in Vergessenheit, ressourcenschonende Konsummuster verloren an Bedeutung. Stattdessen setzte man auf Produktionssteigerung, auf Wachstum und produzierte ganz nebenbei jede Menge Abfall: 417 Millionen Tonnen waren es 2018 allein in Deutschland. Der Eifelturm wiegt 10.000 Tonnen. Wir produzierten also jährlich einen Abfallhaufen, der dem Gewicht von 41.700 Eifeltürmen entspricht. Zurück in meinen Keller, in dem sich ein Teil dieses Problems versammelt. Toaster, Stehlampe, Kindersitz, Computermäuse, Kameras: Alles wartet auf Reparatur und Neueinsatz. Die Zeichen dafür sind günstig, das Recht auf Reparatur und Mindesthaltbarkeitsdaten für Elektrogeräte wird diskutiert. Hier ein weiterer Vorschlag: Wie wäre es mit Steuervorteilen für Reparaturberufe? Ich träume von einer Rückkehr des mobilen Reparaturservice und stelle mir vor, dass in regelmäßigen Abständen jemand an meiner Haustür oder im Viertel vorbeikommt und sich um die reparaturbedürftigen Dinge in meinem Lebensraum kümmert. Ich hätte endlich mehr Platz, ein besseres Gewissen und viel mehr Lebensqualität. Und müsste dabei auf wenig verzichten, außer auf all den Wohlstandsschrott. Kat Menschik arbeitet bereits seit 1999 als freiberufliche Illustratorin in Berlin. Die studierte Kommunikationsdesignerin zeichnet für Zeitungen, Magazine und Buchverlage, unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Seit 2016 veröffentlicht Kat Menschik mit „Klassiker der Weltliteratur“ ihre eigene Buchreihe im Berliner Galiani-Verlag. Kat Menschik illustrierte Bücher von Enn Vetemaa und Haruki Murakami. EINS2022 47
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