KOLUMNE Im Iran glauben Menschen mit all ihrer Kraft an die Veränderung zum Besseren. Gehen auf die Straße und riskieren viel. Autorin Anne Lemhöfer bewundert ihren Mut. Kämpft aber noch mit dem Aufstehen. Illustration von Kat Menschik Mein Mann und ich sitzen nach einem turbulenten Tag mit drei Kindern und zwei Jobs vor dem Fernseher, mal wieder schaffen wir es erst zu den Tagesthemen am späteren Abend, wir seufzen, weil sich unser Leben so anstrengend anfühlt. Irgendjemand müsste mal die Wäsche machen, außerdem schreibt das große Kind nächste Woche zwei Klassenarbeiten. Dann sind da plötzlich, längst nicht zum ersten Mal, wieder diese Frauen und Männer in Teheran, mitten in unserem unaufgeräumten Wohnzimmer, junge und alte, manche noch fast Kinder. Sie demonstrieren um ihr Leben, es geht um alles. Seit im September die 22 Jahre alte iranische Kurdin Mahsa Amini von der iranischen Sittenpolizei festgenommen wurde, weil sie kein Kopftuch trug, und später im Gefängnis starb, verfolgen wir die Proteste, entsetzt und berührt. Vom Sofa aus, während ich in einer WhatsApp-Gruppe munter Vorschläge für das Geburtstagsgeschenk einer Kollegin poste und mein Mann am Tablet über die Bundeligatabelle scrollt. Heute hält er auf einmal inne und schaut mich an. „Wenn das jetzt bei uns wäre, meinst du, wir wären da dabei?“ Ich schlucke kurz. „Natürlich! Ja, oder? Was sonst?“ Ich denke an unsere Kinder, die friedlich in ihren Betten schlafen, und denen, Stand jetzt, weder Bomben noch Hunger noch Folter drohen. „Wir könnten dabei sterben. Würdest du das wirklich riskieren?“, fragt er. Würden wir das riskieren? Auf einmal spüre ich den Luxus, solche Gedanken nach ganz weit hinten im Hirn schieben zu können, fast körperlich. Wir könnten einfach die Nachrichten ausschalten und unsere Netflix-Serie weiterschauen. Es wäre so einfach. Wirklich? Mehr als 500 Menschen im Iran sind seit Beginn der systemkritischen Kundgebungen vor fünf Monaten getötet worden. Auch sie hatten Kinder, Eltern, Freundinnen und Freunde, sie hatten Hoffnungen, waren verliebt oder mussten ältere Verwandte pflegen, und vermutlich hätten sie im Grunde auch alle lieber Fernsehen geschaut. Und trotzdem sind sie auf die Straße gegangen, weil sie genug von Gewalt, Diktatur und Staatswillkür hatten und endlich das wollten, was wir, wie es manchmal scheint, als völlig selbstverständlich hinnehmen: Menschenrechte, Frieden und Demokratie. Wie sind wir eigentlich dahin gekommen, auf diese Couch, auf der wir lahme „Was würden wir tun?“-Gespräche führen ̶ statt wirklich etwas zu tun? An Missständen besteht schließlich kein Mangel. Doch was soll das Eingreifen von uns einzelnen Menschen in die Zumutungen einer globalisierten Welt schon bringen? Unsere persönlichen Fähigkeiten im Weltretten sind äußerst begrenzt. Wir können weder Operationen an offenliegenden Organen durchführen noch Brunnen 46 EINS2023
graben oder zerbombte Häuser reparieren. Und Zeit im Überfluss haben wir auch nicht. Nein? Weil die Wäsche wartet? Weil wir wegen fehlender Work-Family-Life-Balance jetzt erst mal ein Achtsamkeitsseminar belegen müssen? Stimmt, achtsam zu sein, wäre ein guter Ansatz, nämlich Achtsamkeit zu zeigen für unsere Demokratie, die ganz und gar nicht selbstverständlich ist, wenn wir uns nicht um sie kümmern. Es gibt tatsächlich genug Dinge, die wir tun können, online und vor allem offline: Zuhören, den Austausch suchen und Stellung beziehen, zum Beispiel. Wir können uns einmischen, wenn bei Gesprächen am Küchentisch, beim Familienfest oder in der Kantine rassistische oder antisemitische Ressentiments geäußert werden. Wir können einhaken, wenn Populisten Stimmung machen und differenzieren, wenn wieder einmal alles durcheinandergeworfen wird. Oder Fakten auftischen, wenn allzu einfache Erklärungen und Wahrheiten verkündet werden. Jede und jeder Einzelne ist wichtig für den öffentlichen Diskurs. Fridays for Future und Black Lives Matter haben gezeigt, wie viel Aufmerksamkeit es auch im Westen erregt, wenn Menschen auf die Straße gehen und gemeinsam Forderungen stellen. Unser Demonstrationsrecht zu nutzen, ist einer der wichtigsten Bausteine unserer Demokratie. Wir müssen uns als Gesellschaft darüber austauschen, wie wir leben wollen. Egal, ob mit der Nachbarin oder einem Wildfremden. Aber dabei darf es nicht bleiben. Schließlich hat uns nur der geografische Zufall qua Geburt nach Deutschland verschlagen und nicht in den Iran oder nach Afghanistan oder in die Ukraine. Da könnten wir schon versuchen, ein bisschen Gerechtigkeit herzustellen, indem wir etwas von unseren Privilegien abgeben: Geld, sofern wir darüber verfügen, Zeit und Aufmerksamkeit für Geflüchtete, für die Seenotrettung, für Menschenrechte, fürs Klima. Was würden wir tun, was hätten wir getan? Auch wenn eine Antwort vielleicht auch gar nicht möglich ist: Die Beschäftigung mit der Frage, ob man im Iran, in China, in Russland oder in Deutschland während der Nazizeit mutig, vorsichtig oder feige (gewesen) wäre, ist wichtig. Denn es erinnert daran, dass Demonstrieren bei uns heute möglich ist, ohne sein Leben zu riskieren. Es ist ein gutes Gefühl, das wir schützen sollten. Kat Menschik arbeitet bereits seit 1999 als freiberufliche Illustratorin in Berlin. Die studierte Kommunikationsdesignerin zeichnet für Zeitungen, Magazine und Buchverlage, unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Seit 2016 veröffentlicht Kat Menschik mit „Klassiker der Weltliteratur“ ihre eigene Buchreihe im Berliner Galiani-Verlag. Kat Menschik illustrierte Bücher von Enn Vetemaa und Haruki Murakami. EINS2023 47
Laden...
Laden...
Follow Us
Instagram
Twitter
Facebook