Dass das ankam, hat mich überrascht – und gefreut. Mit mir ziehen die indigenen Stimmen in die Akademie ein, die über Jahrhunderte unterdrückt wurden. Die Akademie spiegelt die Vielfalt der Erzählungen in unserem Land jetzt etwas besser wider. Ich möchte das Monopol des Portugiesischen aufbrechen. Aus der Lusophonie, dem portugiesischsprachigen Die Sprache des Krenak- Volks, rund 700 Menschen, sprechen nur noch die alten Frauen und wenige Männer Ailton Krenak ist ein brasilianischer Schriftsteller, Philosoph und Umweltaktivist des Krenak- Volkes. Er wurde 2023 als erster Indigener in die Brasilianische Akademie der Literatur gewählt. Der 71-Jährige hat eine Buchreihe veröffentlicht, in der er zeigt, wie indigene Denkweisen einen Ausweg aus der drohenden Umweltkatastrophe weisen könnten. Als Brasilien sich nach der Militärdiktatur 1985 eine neue Verfassung gab, berief man ihn in die verfassungsgebende Versammlung. Raum, soll eine Symphonie der Sprachen werden. Aber viele indigene Sprachen sind gar nicht schriftlich erfasst. Ich wünsche mir eine digitale Bibliothek mit Text-, Ton- und Bildaufnahmen. Heute studieren rund 55.000 junge Indigene an einer Hochschule. Viele spezialisieren sich auf Linguistik. Sie könnten meine Kolleg*innen bei der Registrierung des Sprachenreichtums unseres Landes sein. Ich stelle mir vor, dass sie Grammatiken und Wörterbücher erstellen, um sie in einer Datenbank zusammenzufassen. Ihr Buch „Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen“ war 2019 ein Bestseller, auch außerhalb Brasiliens. Es ist ein Pamphlet gegen die Idee einer globalisierten Menschheit, in der alle Menschen die gleiche Kultur und Sprache und den gleichen Geschmack haben. Wie erklären Sie sich den Erfolg? Viele Menschen spüren intuitiv, dass etwas nicht stimmt an der Erzählung von einer auf ein Ziel ausgerichteten Menschheit. Denn diese angebliche Zivilisation ist im Kern kolonial, patriarchalisch und auf Geld und Waren ausgerichtet, sie ist merkantil. Aber wie kann diese Erzählung vom Menschen als Konsumenten stimmen, wenn mehr als die Hälfte der Menschen arm ist und nicht zählt, was sie erlebt und zu sagen hat? Die Modernisierung hat die Menschen aus den Wäldern und vom Land vertrieben, sodass sie heute in Favelas und an den Rändern der Städte leben. Sie wurden aus ihren Gemeinschaften gerissen und in diesen Mixer einer angeblich globalen Menschheit geworfen. Aber wenn Menschen keine Verbundenheit mehr mit ihren Vorfahren fühlen, wenn sie „Unsere Sprache stärkt unsere Abwehrkräfte.“ „Ich wünsche mir, dass in Brasilien aus der Lusophonie eine Symphonie der Sprachen wird.“ keine Sprache und kein Gedächtnis mehr haben, keinen Bezug mehr zu den Dingen und den Orten, die ihre Identität ausmachen, dann werden sie verrückt. Welchen Stellenwert haben die Sprachen der Indigenen heute in Brasilien? Sie gelten immer noch als minderwertig und immer weniger junge Menschen sprechen sie. In Paraguay und Peru dagegen sind indigene Sprachen Amtssprachen, in Bolivien sind 37 indigene Sprachen offiziell anerkannt. In Brasilien gibt es offiziell nur das Portugiesische, obwohl bei uns die größte sprachliche Vielfalt Südamerikas vorhanden ist. Bis in die 1980er Jahre hieß es, dass jemand nicht spräche, wenn er kein Portugiesisch konnte. Weil indigene Sprachen nicht als Sprachen galten? Genau. Unter der Militärdiktatur war es verboten, sie zu sprechen. Erst in der Verfassung von 1988 wurde auch auf mein Betreiben hin das Recht der indigenen Völker auf Ausübung ihrer Muttersprachen und Schulbildung in indigener Sprache verankert. Leider können aber viele vom Staat in die indigenen Dörfer entsandten Lehrer gar nicht die lokalen Sprachen. Ihre Muttersprache ist Krenak. Ja, aber ich beherrsche es nur passiv. Das Krenak-Volk zählt heute rund 700 Menschen, unsere Sprache wird nur noch von den alten Frauen und wenigen Männern gesprochen. Unsere Geschichte ist voller Brüche, Flucht und Gewalt. Die Portugiesen nannten die Krenak einst „Botokuden“ – nach den Holzpflöcken, den botoques, die sie in 12
Das Internet verändert das Leben in den Dörfern der Indigenen stark – Smartphones gehören jetzt zum Alltag Lippen und Ohrläppchen trugen. Man erzählte, dass wir Kannibalen seien, weshalb man einen „gerechten Krieg“ gegen uns führte. In der Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985 steckte man die Krenak in Arbeits- und Umerziehungslager. Immer wieder wurden unsere Gemeinschaften auseinandergerissen, mussten die Männer flüchten, wurden die Krenak bedrängt von Holzfällern, Siedlern und Viehzüchtern. Die Frauen blieben, sie wurden die Bewahrerinnen der Sprache. Wie drückt sich das indigene Denken in der Sprache aus? Zum Aufwachsen eines jungen Indigenen gehört, dass er die Traditionen und Erzählungen seiner Vorfahren kennenlernt, um sich als Teil seines Volks zu verstehen. Er kann trotzdem Arzt oder Anwalt werden, aber es ändert nichts daran, wer er ist und woher er kommt. Wir Indigenen lernen, dass wir nicht außerhalb unserer Gruppen existieren. Ich habe als Kind oft gehört: „Vergiss nicht, woher du kommst. Sonst verläufst du dich auf „Die Sprache wirkt der Erosion der indigenen Gemeinschaften entgegen.“ deinem Weg.“ Die Sprache wirkt der Erosion der indigenen Gemeinschaften entgegen. Und sie ist ein Gegengift zu der Idee, dass Leistung und Erfolg alles sei, was zählt. Haben Sprachen das Potenzial, den Widerstand der Indigenen gegen Umweltzerstörung und Vertreibung aus ihren Territorien zu stärken? Sie sind eine Überlebenstechnik, weil sie uns Konzepte geben, die anders sind als die destruktiven Ideen der Weißen. Sie lehren uns, dass wir Teil der Erde sind. Wissen Sie, was der Name meines Volkes, Krenak, bedeutet? Kre heißt Kopf und nak ist die Erde. Wir sind aus Erde gemacht. Das Verständnis, mit der Erde verbunden zu sein, vereint so gut wie alle indigenen Völker. Es stärkt unsere Abwehrkräfte. Auf dem Internationalen Literaturfestival in Petrópolis strömte das Publikum in Massen zu Ihrem Vortrag. Warum sind Sie derzeit so gefragt? Das westliche Denken mit seinem egozentrierten Menschenbild steckt in einer Sackgasse. Der westliche Mensch hat immer das Gefühl, dass er etwas vermisst, er ist nie zufrieden. Er lebt in einer Kultur des Mangels. Ihm wird ständig vermittelt, dass er nicht genug leistet. Und jetzt spürt er, dass sein Lebensstil in die Katastrophe führt. Er weiß nicht, was auf ihn zukommt, und er hat Angst. Er glaubt, dass wir Indigenen ihm irgendwie weiterhelfen könnten. Die Menschen kommen zu mir, weil sie Trost suchen. Sie wollen hören, dass sie nur etwas nachhaltiger leben müssten – ein bisschen weniger Müll produzieren, ein bisschen weniger Energie verbrauchen –, damit „Mutter Erde“ wieder ins Gleichgewicht kommt. Aber ich habe keinen Trost. Ich habe nur Warnungen. 13
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