INDIEN IM DERLAND Text von Natalie Mayroth Fotos von Urvi Desale Indien hat zwei landesweite Amtssprachen: Englisch und Hindi, doch dazwischen koexistiert eine breite Vielfalt. Der Zugang zur Sprache ist aber auch ein Weg zum sozialen Aufstieg. Am Morgen beginnt Vishnu Nair in Hindi zu sprechen. Der 24-Jährige lebt in der westindischen Metropole Mumbai, wo er in seinem Stadtteil Sion mit einem bunten Mix aus Sprachen und Kulturen zu Hause ist. Hindi ist hier weit verbreitet, doch Marathi, die Lokalsprache, hält sich hartnäckig im Alltag vieler Bewohner*innen. Vishnu aber hat seine eigene Sprache für jede Situation. Am Telefon wechselt er zu Malayalam, wenn er mit seinen Eltern redet, die im südindischen Kerala leben. Mit seinem besten Freund unterhält er sich auf Tamil, mit anderen Musikern oft auf Englisch. Und an der Universität ist es wieder ein Sprachenmix aus Marathi, Hindi und schließlich Englisch, das als Unterrichtssprache dient. Der Student und Musiker schreibt seine Texte in Hindi, Malayalam und die Refrains in Englisch. Dieser ständige Wechsel zwischen den Sprachen ist für ihn nicht nur Alltag, sondern auch ein Vergnügen. „Das meiste habe ich aber nicht in der Schule gelernt“, sagt er. Die Grundlage legte zwar der Unterricht an einer englischsprachigen Schule, doch das wahre Training erhielt er in den Straßen von Dharavi, dem größten Slum Asiens. Hier entwickelte Vishnu eine besondere Beziehung zu Sprachen in einem Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen, Religionen und sozialer Zugehörigkeiten. Was die Bewohner*innen in Dharavi vereint, ist der gemeinsame Traum ihrer Eltern, die für eine bessere Zukunft nach Mumbai gekommen sind. In Foto: picture alliance/Zoonar einer solchen Stadt ist das Beherrschen mehrerer Sprachen kein Luxus, sondern oft eine Frage des Überlebens. Nair hat dies zu seinem Vorteil genutzt. Kürzlich bestand er die Eignungsprüfung für Jura – ohne seine Sprachkenntnisse wäre das nicht möglich gewesen. Englisch war für ihn die Brücke zur Welt außerhalb Indiens, und auch seine Musikkarriere profitiert von seiner Mehrsprachigkeit. Nairs Entscheidung, Hindi als Musiksprache zu wählen, ist strategisch. „Rap klingt besser in meiner Muttersprache Malayalam“, sagt er. Doch Hindi erreicht ein größeres Publikum, was ihm wichtig ist, um seine Botschaften zu verbreiten. „Rap ist für mich eine Möglichkeit, das auszudrücken, was ich um mich herum sehe und fühle“, so der Jurastudent. Ein Song, der ihm besonders am Herzen liegt, 30 In Mumbai ist es selbstverständlich und überlebenswichtig, mehrere Sprachen zu beherrschen
Bilinguale Straßenschilder sind in Indien weitverbreitet, hier in Mumbais Stadtteil Bandra West Vishnu Nair ist in Mumbai aufgewachsen, Mehrsprachigkeit ist für den Musiker Alltag und Vergnügen Die Sprachenvielfalt ist eine enorme Bereicherung trägt den Titel „Pehla Vote, Pehla Pyaar“ („Erste Stimmabgabe, erste Liebe“). Mit diesem Stück versucht Vishnu, Menschen für Politik zu begeistern, was er zuletzt im Frühjahr tat, als Indien ein neues Parlament wählte. Nun stehen Wahlen im Bundesstaat Maharashtra an. Die Sprache, die auf den Straßen Mumbais gesprochen wird, ist jedoch ein ganz eigenes Konstrukt. „Bombay Hindi“ ist eine Mischung aus Hindi, Marathi sowie Einflüssen aus Gujarati, Urdu und Englisch. Und ohne englische Wörter kommt Nairs Rap genauso wenig aus wie die Kommunikation in der Stadt. Im Norden Indiens mag man das Hindi in Mumbai als „unrein“ bezeichnen, doch für die Einwohner der Megastadt ist es eine Sprache, die verbindet. In Mumbai ist die erste Sprache, die viele Menschen nutzen, um mit Fremden ins Gespräch zu kommen, Hindi. Sie ist seit 1950 neben Englisch Amtssprache und die am weitesten verbreitete Sprache Indiens. „Rap klingt besser in meiner Muttersprache.“ Ihre Dominanz verstärkt sich durch Migration aus dem „Hindi- Gürtel“ im Norden Indiens, der sich gerade in Mumbai widerspiegelt. Doch Englisch bleibt eine wichtige Verkehrssprache, insbesondere zwischen dem Norden und dem Süden des Landes. In dieser Sprachenvielfalt spiegelt sich die soziale und kulturelle Dynamik Indiens wider: „In einer Stadt wie Mumbai ist es eine Selbstverständlichkeit, in mindestens drei Sprachen sozialisiert zu werden“, sagt Entwicklungspolitologin Benazir Lobo-Bader, die seit fast 20 Jahren Misereor- Partnerorganisationen in Indien begleitet und berät. Sie selbst wuchs mit Konkani, Hindi, Urdu, Marathi, Englisch und später auch Deutsch auf. Für sie war diese Vielfalt eine enorme Bereicherung. Die Schule, in der drei Sprachen – Marathi, Englisch und Hindi – Pflichtfächer sind, legte den Grundstein. Doch die wahre Vielfalt Mumbais erlebt man im Alltag: auf den Märkten, in Geschäften, in der Kirche (wo auch Messen in Konkani abgehalten werden) und auf dem Weg zur Moschee (in der in Urdu gepredigt wird) oder bei Hindu-Feierlichkeiten (bei denen Verse in der alten Sprache Sanskrit verwendet werden), sagt sie. Auf der Rückseite der indischen Rupie-Banknoten sind 15 der 22 offiziellen Sprachen Indiens aufgelistet. Dazu gehört auch Konkani, das vereinzelt in Mumbai sowie in Goa gesprochen wird und die Muttersprache von Lobo-Baders Vorfahren war. Ein solches kulturelles Erbe zu bewahren, sieht sie als wichtig an. Doch die Sprache wurde im Laufe der Jahrhunderte stark marginalisiert. Zuerst durch die portugiesische und später durch den Einfluss der britischen Kolonialmacht. „Trotz ihrer offiziellen Anerkennung kämpft Konkani weiterhin gegen die Dominanz anderer 31
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