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frings. Das Misereor-Magazin 1/2024: Wir müssen reden!

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Benazir Lobo-Bader lebt

Benazir Lobo-Bader lebt in Mumbais Viertel Bandra West. Es ist wie der Rest der Metropole multireligiös. an“, sagt Lobo-Bader. „Glücklicherweise hat in Indien das Erzählen von ‚Geschichten‘ in regionalen und indigenen Sprachen und Kontexten stark an Bedeutung gewonnen“, sagt sie. Dies wird auch durch Partnerorganisationen von Misereor wie „Adivasi Lives Matter“ gefördert. Ein Weg, um kulturelle Identität zu stärken und sicherzustellen, dass die eigene Herkunft stärker wahrgenommen wird. „Wir bräuchten viel mehr solcher Initiativen“, sagt sie, „um Indigenen und anderen Marginalisierten die Kontrolle über ihre Identität zu geben und die Dominanzstrukturen von Englisch und Hindi aufzubrechen.“ Gerade sprachpolitisch könnte sich in Indien einiges ändern. Nach über 30 Jahren soll die Bildungspolitik neu ausgerichtet werden. „Wir stellen fest, dass Englisch nicht die internationale Sprache geworden ist, wie man es in den 1960er Jahren 32 Benachteiligte Gruppen sind durch Sprachunterschiede oft mit Bildungsbarrieren konfrontiert erwartet hatte“, heißt es in einem Auszug der sogenannten National Education Policy (NEP) von 2020. Das verwundert etwas, da Indien das Land mit der zweitgrößten englischsprachigen Bevölkerung ist. Englisch brachte gerade indischen Fachkräften im In- und Ausland Vorteile. Dennoch soll der Fokus vermehrt auf indische Sprachen gelegt werden. Der Unterricht und das Lernen in den unteren Klassenstufen sollen künftig in zahlreichen Regionalsprachen stattfinden. Einige Pädagog*innen sind der Meinung, dass der Grundschulunterricht in der Muttersprache oder der lokalen Sprache von Vorteil sei. „Die Muttersprache hilft den Schülern, Konzepte besser zu verstehen“, sagt Lobo-Bader. Historisch marginalisierte Gruppen wie Stammesgemeinschaften und sprachliche Minderheiten sehen sich aufgrund von Sprachunterschieden oft mit systembedingten Bildungsbarrieren konfrontiert. Für Pragya Majumder, unabhängige Beraterin für frühkindliche Bildung und langjährige Projektpartnerin von Misereor, ist mehrsprachige Bildung ein Schlüssel zu mehr Gerechtigkeit und Inklusion. „Darauf sollten wir aufbauen und dafür sorgen, dass diese Aspekte der Politik auch tatsächlich flächendeckend um-

Mehrsprachige Bildung ist ein Schlüssel zu mehr Gerechtigkeit und Inklusion In Indien sind an den Bahnhöfen Beschriftungen in verschiedenen Sprachen üblich gesetzt werden“, sagt sie. Und Benazir Lobo-Bader ergänzt: „Wenn man in die Vergangenheit schaut, so lag die Diskurshoheit im Land seit der Kolonialzeit vor allem bei denen, die Englisch sprachen, vor allem als Bildungs- und Verwaltungssprache.“ Die Krux wird jedoch in der Umsetzung liegen. Englisch könnte so zugunsten anderer Sprachen im öffentlichen Bildungssektor zurückgedrängt werden, befürchten Kritiker*innen des Vorhabens. Das Lernen von Englisch und die Schulbildung insgesamt könnte sich weiter auf den privaten Sektor verlagern, zu dem nicht jeder Zugang hat und sich damit soziale Ungleichheit verschärfen. In Indien haben Kinder bis zum Alter von 14 Jahren das Recht auf kostenfreie Schulbildung. Gerade für jene aus benachteiligten Verhältnissen ist mit Englisch die Chance auf höhere Bildung eng verknüpft, warnt Pater Frazer Mascarenhas, der über viele Jahre Schulen und eine Universität in Mumbai geleitet hat. Englisch außerhalb der Schule aufzuholen, um später einen der begehrten Berufe auszuüben, sei schwierig. Zwar sollen neue Studiengänge in Hindi anlaufen. Doch nach wie vor ist Englisch der Schlüssel zu internationalen Karrieren. Insgesamt sind es aber nur rund 10 Prozent aller Inderinnen und Inder, die Englisch als Zweitsprache sprechen. Versuche der Regierung inklusive der Bildungsreform, Hindi im Rahmen ihres hindunationalistischen Kurses als Unterrichtssprache zu etablieren, wurden bisher vor allem in den südlichen Bundesstaaten zurückgewiesen: Die 260 Millionen Inder*innen, die hier leben, bevorzugen in weiten Teilen Englisch als Zweitsprache. Hindi, das im Vergleich zu Indiens klassischen Sprachen recht jung ist, genießt nicht überall im Land das gleiche Ansehen. De facto bedeutet diese Reform, dass der Unterricht in Hindi beziehungsweise in Mumbai in Marathi ausgebaut wird. Darüber gehen die Meinungen auseinander. „Meine eigene Schulausbildung fand in Marathi statt. Ich habe das Foto: Florian Kopp Gefühl, dass ich viele Chancen im Leben verpasst habe“, sagt die Mittdreißigerin Vijaya Yewle, da sie nicht fließend Englisch spricht, und das ist in dieser wettbewerbsorientierten Welt ein Vorteil. Sie hat ihren Sohn bewusst an einer englischsprachigen Schule in Mumbai angemeldet statt an einer städtischen, die kostenfrei wäre. Zu Hause wird in der Familie hauptsächlich Marathi gesprochen, sodass es für ihren Sohn nicht immer leicht ist, dem Unterricht zu folgen. Yewle ist dennoch sicher, die richtige Wahl getroffen zu haben. Ihre Familie gehört der Ambedkarite-Bewegung an, die an sozialen Aufstieg durch Bildung als Weg aus der Diskriminierung durch das Kastensystem glaubt. Ihr jüngerer Bruder hat es ihnen bereits vorgemacht, er promoviert als erster in der Familie. Bildung ist ein Weg aus dem diskriminierenden Kastensystem und ermöglicht den sozialen Aufstieg Während die lokale Regierung versucht, Marathi zu fördern und die Regierung in Delhi Wert auf Hindi legt, wird Mumbai vorerst ein linguistischer Brennpunkt bleiben. Unzählige Dialekte und Sprachen koexistieren weiter nebeneinander, die Vielfalt wird auf der Straße gelebt solange sie existiert. Natalie Mayroth lebt und arbeitet in Mumbai und Moosburg. Sie berichtet für deutschsprachige Medien über Südasien. Urvi Desale lebt und arbeitet in Mumbai. Spezialisiert ist sie auf Porträts, die Einfachheit und Verletzlichkeit zeigen. 33

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