KOLUMNE Es gibt Situationen, da lässt sich mit Worten nicht mehr punkten. Wäre Schweigen dann eine passende Alternative? Einfach mal ausprobieren, schlägt Autorin Anne Lemhöfer vor. Illustration von Kat Menschik Der Vormittag ist bereits zwei Lachsbrötchen und anderthalb Cappuccino alt, der Tisch im Frühstückscafé mit fünf Leuten voll besetzt. Gerade ist alles gesagt zu den Pannen der Deutschen Bahn und dem Rechtsruck in Europa, die Vor- und Nachteile eines Hundes im Homeoffice wurden ausführlich und von allen Seiten beleuchtet („Mach es, ich hab seitdem jeden Tag 18.000 Schritte auf der Uhr“), gerade war die Kellnerin da. Eine kurze Gesprächspause kündigt sich an. Ich vertiefe mich in das Design der Lampen und die Umgebungsgeräusche und sinne darüber nach, wie angenehm es ist, gemeinsam hier zu sitzen. Auch gern mal ein paar Momente, ohne etwas zu sagen. Zeichnen sich gute Beziehungen nicht genau dadurch aus, dass man auch zusammen schweigen kann? Schon ist der Augenblick vorbei. „Jetzt sagt doch mal, was in Israel läuft, das geht echt gar nicht mehr …“ Und als ob rote Lämpchen über jedem einzelnen Kopf angehen, lässt sich beobachten, wie Argumente, gerade noch auf Instagram oder X beschrieben oder beantwortet, bestritten oder bekämpft, durch die Gehirne rattern. Fünf Menschen und fünf fein austarierte, in Nuancen abweichende Meinungen fangen an, sich den Raum streitig zu machen und einander zu bekämpfen. Am Ende des Treffens fühlt es sich so an, als ob alle einander ein bisschen hassen. Ich weiß, so etwas nennt sich Diskurs, und er ist wichtig. Sich selbst in der Welt zu verorten, zu wissen, wo man steht und wofür man einsteht und dies anderen mitzuteilen, ist Teil des Menschseins. Vermutlich ein Grund dafür, weswegen soziale Medien so erfolgreich zu digitalen Stammtischen mutiert sind, weswegen Podcasts so beliebt sind und fast alle schon mal kurz überlegt haben, selbst einen zu machen. Aber müssen wir tatsächlich zu allem und jedem etwas sagen? Was in unserer redefreudigen Zeit nämlich gern mal vergessen wird, ist die Kunst des Schweigens: Dabei ist Schweigen ein mächtiges kommunikatives Instrument – wenn nicht das mächtigste. Es gibt viele Situationen, in denen Schweigen die stärkste Geschichte erzählt, in Verhandlungen zum Beispiel. Aber auch im Alltag könnte Schweigen bisweilen eine Stärke sein. Passiert in einem ganz normalen Büro-Meeting an einem ganz normalen Tag doch immer wieder: Da macht eine Kollegin einen neuen Vorschlag, und die Kollegen rollen mit den Augen und kommentieren: „Aber das haben wir ja noch nie so gemacht, jetzt schaff‘ doch nicht noch neue Probleme …“ Was für eine Traumvorlage für eine erhitzte Diskussion, in der wir uns (auch als Person mit der eigentlich guten Idee) gern mal in Rage reden. Was, wenn wir die Abwehrhaltung ausnahms- 48
weise mal schweigend stehen und die Meinung der Bedenkenträger ins Leere laufen lassen? Darauf vertrauend, dass die Botschaft trotzdem angekommen ist? Durch Schweigen die Luft herauszulassen, funktioniert auch an der Supermarktkasse. „Haben Sie es nicht kleiner?“, fragt die genervte Kassiererin in der Stoßzeit. Naja, offensichtlich nicht, sonst hätte ich schon die Zehn-Cent-Münzen gezückt, lässt sich jetzt darauf antworten, in ebenso gereiztem Ton. Aber einfach einmal nur freundlich zu lächeln und bedauernd den Kopf zu schütteln könnte in dieser und ähnlichen Situationen die entspanntere Lösung für alle sein. Was denken Sie, wie geht es weiter mit dem royalen Brüderpaar William und Harry, werden sie sich wieder vertragen? Wie intensiv darf man als Nicht-Einheimische den Staat Israel kritisieren, und ab wann ist es antisemitisch? Was ist Ihre Ansicht zu Hafermilch? Zu Sahra Wagenknecht? Zum Steingarten der Nachbarn? Glauben Sie, eine moderne, saubere Atomkraft ist tatsächlich so schlecht, wie früher immer alle dachten? Unsere Meinung scheint heutzutage zu jedem beliebigen Thema gefragt zu sein – oder zumindest gibt es zu fast jedem Thema eine öffentliche Möglichkeit, sie zu äußern. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass man verpflichtet ist, sich zu jedem Aufreger tatsächlich eine Meinung zu bilden. Es fühlt sich nur so an. Und es ist nicht einmal schwer, sofern es um ein Bauchgefühl geht – das lässt sich blitzschnell aktivieren und in Worte fassen. Aber, wenn ich ehrlich bin: Viele Meinungen, die ich mit mir herumtrage, sind eine ziemlich wilde Zusammenstellung von Halbwissen, von irgendwie gut klingenden Ansichten von Menschen, die ich mal als cool und vernünftig identifiziert habe, und die auf Facebook oder Instagram geliked wurden von anderen Menschen, die ich als cool und vernünftig verorte, weil sie irgendwo … Stopp. Ich glaube: Wir müssten viel öfter einfach mal den Mund halten. Uns eingestehen, dass wir vieles eben nicht so ganz genau wissen. Und schweigen, um den Worten, die wir dann doch sagen, mehr Gewicht zu verleihen. Im Privaten, in der Politik, in den digitalen Medien, an der Supermarktkasse. Es ist ein echter Erkenntnisprozess zu sagen: Das muss doch nicht sein. Nomad*innen in der Wüste schweigen oft den ganzen Tag, weil ständiges Reden viel Flüssigkeit kostet. Auch uns kostet es Konzentration und Energie – und Glaubwürdigkeit. Denn wir haben nun einmal nicht zu allem etwas zu sagen. Das ist völlig in Ordnung. In der kurzen Stille, die diese Momente bringen, können wir die innere Pausentaste gedrückt halten und uns auf das konzentrieren, was in uns oder um uns herum los ist. Uns die Zeit nehmen, einen Schluck Wasser zu trinken. Oder den Cappuccino in Gemeinschaft zu genießen. Anne Lemhöfer arbeitet als Redakteurin für das Ressort Magazin und Reportage der Frankfurter Rundschau, zudem frei für den Reiseteil der ZEIT. Kat Menschik arbeitet seit 1999 als freiberufliche Illustratorin in Berlin und Brandenburg. Sie zeichnet für Zeitungen, Magazine und Buchverlage. 49
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