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frings. Das Misereor-Magazin 1/2025: Reisen und die Welt erleben

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KOLUMNEAuf Reisen findet

KOLUMNEAuf Reisen findet der moderne Mensch zu sich selbst.Wirklich? Unsere Kolumnistin Anne Lemhöfer hat so ihreZweifel – und bleibt inzwischen am liebsten zu Hause.Text von Anne LemhöferIllustration von Kat MenschikDie schönsten Wochen des Familienlebensliegen vor uns, alleKoffer sind gepackt und imAuto verstaut, und wir sind auf derAutobahn Richtung Ostsee. „Mama,ich brauche deinen Hotspot“, tönt esvon der Rückbank, wo unsere dreiKinder für die nächsten acht Stundenzusammensitzen werden, enger alsjemals im Alltag auf der Couch. „Jetztschon Handy? Wollen wir nicht eineRunde Stadt-Land-Fluss spielen?“,versuche ich es, doch der Zehnjährigelässt sich nicht abbringen. Streitauf engstem Raum? Das gilt es zu vermeiden.Ich erinnere mich an meineEltern, die auf langen Urlaubsfahrtenmehr Gummibärchen ausgeteilt hattenals im Rest des Jahres zusammen,ganz gegen ihre Überzeugung, aberes gab ein höheres Ziel: einfach ankommen,egal wie. Die 13-Jährige hatsich sowieso schon mit Kopfhörernzugestöpselt, es wäre eine Ungerechtigkeitbiblischen Ausmaßes, das demBruder zu verweigern. Okay. Zehn SekundenRuhe. Ich schäme mich kurzfür unser fragwürdiges Erziehungsverhalten.Im Ferienhaus werdendann nur noch Brettspiele gespieltund Radtouren unternommen! „Maama,Paaapa, könnt ihr ‚Barbie-Girl‘auf dem Radio anmachen, dreimal?“,kräht die Sechsjährige.Urlaub, das ist doch die beste Zeitdes Jahres? Das galt für unsere Familiemeist ab dem Moment, an dem das Urlaubszielerreicht und alle Koffer ausgepacktwaren. Dann wurde es gut, obwohlich unseren Alltag zu Hause oftentspannter finde. Zumindest geht esmir seit einiger Zeit so. Vielleicht liegtes am Alter? Vielleicht sind die Zeiten,in denen wir leben, auch ohne weiteReisen aufregend genug? In welcheGegenden der Welt können wir überhauptnoch guten Gewissens einfachzum Vergnügen reisen, vom Klima-Aspektganz abgesehen? Ich gestehe: Ichbin reisemüde geworden. Dabei wares für mich lange das Größte, entlegensteWinkel der Welt zu erkunden,ich habe von Neuseeland bis Sumatra,von Südafrika bis Sansibar, von Georgienbis zum Nordkap vieles gesehen.Das war super. Ob mich diese Trips alsMensch haben reifen lassen? Weiß ichnicht. Die große Mehrheit der Menschenauf der Welt verreist nie (jedenfallsnicht zum Vergnügen), sind diejetzt weniger reif und weise als ich?Millionen sind gezwungenermaßen46 EINS2025

auf der Flucht in weit entfernte Länderund wünschten sich ein friedlichesLeben zu Hause.Ein friedliches Leben zu Hause: Dashabe ich. Und das ist eigentlich dasgrößte Glück, denke ich inzwischenoft demütig. Der Apfelbaum im Garten,die neuen Wandfarben, die wirals Familienprojekt zusammen ausgesuchtund aufgetragen haben, meineFreundinnen und der tolle Bäcker imNachbarort, warum sollte ich das allesmutwillig allzu oft verlassen wollen?Klar, das lässt sich leicht sagen,wenn man schon weit herumgekommenist. „Reisemüdigkeit“, gibt es eingrößeres Luxusproblem? Mein Berufführte mich oft ins weit entfernteAusland, doch meine letzte geplanteRecherchereise in den Oman habeich an den Volontär meiner Zeitungabgegeben. Er war begeistert – undich habe mich übers Alltagsgeschäftam heimischen Redaktionscomputergefreut und über den behaglich ansFenster tropfenden Regen.Warum reisen wir überhaupt soviel herum? Klar: Weil wir’s können.Einen tieferen Sinn hat es nicht, wennich ehrlich zu mir bin. Wer politischinteressiert und gebildet ist (oder sichso fühlt), ist oft weltläufig eingestelltund häufiger vergleichsweise wohlhabend.Eine gewisse Affinität zum Jet-Set-Leben gehört auch in Öko-Kreisenzum guten Ton, die sonst das einfache,emissionsarme Leben predigen. JungeLeute, die zu Hause jedes GrammPlastik und jede Kilowattstunde Stromsparen, fliegen gerne mal nach Patagonienzum Wandern, verrichten Farmarbeitin Neuseeland oder schauenkurz bei alten Erasmus-Freund*innenin Portugal vorbei. Es sei ihnen gegönnt.Buchtitel wie „Mit 50 Euro umdie Welt“ erwecken allerdings denEindruck, jede*r könne spontan denGlobus bereisen. Doch das schafft inder Regel nur, wer privilegiert ist, Geldzurücklegen konnte oder für den Notfallauf das Geld seiner Eltern zurückgreifenkann.Gibt es eigentlich einen Unterschiedzwischen denen, die von billigenHerbergen in Thailand profitierenund denen, die sich mit Billigklamottenaus Bangladesch einkleiden? Auchwenn wir auf Reisen viel Geld ausgeben,empfinden wir das als moralischhochwertiger als schlichtes Shopping.Ich zumindest dachte lange Zeit, dieReiselust sei ein Teil meines Selbst.Und zwar einer der besseren Teile.So ein Quatsch. Ist dieses Herumfliegenund Herumfahren wirklich soviel besser, cooler und weniger spießig,als das Wäldchen zu Hause zu genießen,den Sommer am Badesee um dieEcke zu verbringen und die Welt überReisereportagen in diversen Mediathekenkennenzulernen? Meine Antwortlautet inzwischen: nein. Es sind schongenug Menschen in jeden Winkel desPlaneten eingefallen, um Millionenandere daran wachsen und gedeihenzu lassen, wenn es wirklich darumgeht. Ich habe für die nächsten Ferienetwas anderes geplant: Ich werde unserealte Holztreppe abschleifen undneu lackieren. Urlaub vom Denken,Urlaub vom Computer. Ich bin sicher,ich werde daran reifen.Anne Lemhöfer arbeitet als Redakteurin für dasRessort Magazin und Reportage der FrankfurterRundschau, zudem frei für den Reiseteil der ZEIT.Kat Menschik arbeitet seit 1999 als freiberuflicheIllustratorin in Berlin und Brandenburg. Sie zeichnetfür Zeitungen, Magazine und Buchverlage.EINS202547

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