Kinder- und Jugendbuchautorin Kirsten Boie über Kinder, die sich nicht unterkriegen lassen Das Gespräch führt Birgit-Sara Fabianek Aktuell sind Sie mit Ihrem Buch „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ auf Lesereise. Darin erzählen Sie die Geschichte von drei Jugendlichen im zerbombten Hamburg unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Was hat Sie an der Geschichte interessiert? Kirsten Boie: Mich hat das Kriegsende interessiert und die Frage: Wie muss es Jugendlichen damals wohl ergangen sein? Als der 75. Jahrestag des Kriegsendes gefeiert wurde, waren die zerbombten Städte wieder überall präsent – genau wie jetzt durch den Krieg in der Ukraine. Ich habe mich dadurch an meine Kindheit erinnert, ich habe selbst noch auf Trümmerfeldern gespielt. Das waren unsere Spielplätze. Deshalb wollte ich die Zeit nach Kriegsende am Beispiel von drei Charakteren erzählen, die unterschiedliche Erfahrungen machen und gemacht haben. Außerdem hat mich schon länger das 22 ZWEI2022 Gerede von der „Stunde null“ gestört – die es nie gegeben hat. In den Köpfen der Menschen ändert sich nichts von einem Tag auf den anderen, dazu braucht es ganz viele neue Erfahrungen. Auch das spielt eine Rolle im Buch. Das Buch endet mit den Sätzen „Alles ist anders. Und wer weiß. Vielleicht wird wirklich alles gut.“ Welche Rolle spielt Hoffnung in Geschichten? Für jüngere Leser*innen will ich auf jeden Fall, dass es am Schluss noch Hoffnung gibt. Wenn die Leser*innen ein bisschen älter werden, kann das Ende auch offenbleiben, das bleibt es hier im Grunde auch, aber Hoffnung „Es ist wichtig, auch über düstere Verhältnisse unterhaltsam zu schreiben.“ muss sein, sodass die Kinder sich ausmalen können: Da wird was Gutes draus. Und ein Happy End macht immer Mut. Wenn es vorher Schwierigkeiten gab und die sind am Ende behoben, dann bestärkt das. Wie erzählen Sie von Problemen wie Armut? Es geht ja nicht nur um Armut, sondern um ein völlig anderes Leben. Meine Erfahrung hat gezeigt, dass ich gerade über düstere Lebensverhältnisse nicht nur trostlos schreiben darf, sonst werden diese Bücher weniger gelesen. Mir ist deshalb wichtig, dass die Leser*innen vor allem Sympathie für benachteiligte Kinder entwickeln können. Wenn das funktioniert, weitet sich der Blick auf die Gesellschaft schon ein bisschen. Ich hoffe im Geheimen, dass es vielleicht sogar gelingt, für diese Kinder ein bisschen Bewunde-
„Ich möchte Bewunderung wecken für Kinder, die zu kämpfen haben.“ rung zu wecken, wenn man liest, wie sie zu kämpfen haben und sich davon nicht unterkriegen lassen. Ich jedenfalls bewundere diese Kinder. Haben Sie den Eindruck, dass Kindern immer weniger zugetraut wird? Ja, ich denke, dass Kindern viele Erfahrungen genommen werden, indem man ihnen signalisiert, dass nur schulische Leistungen zählen. Es hilft ihnen, wenn sie das Gefühl haben dürfen, etwas zum Zusammenleben der Familie beitragen zu können und zwischendurch müssen sie sich auch mal wehtun dürfen, das gehört zum Zutrauen auch dazu. Das ist auch die Haltung von Oma Inge in meinen Sommerby-Geschichten. Sie traut Kindern was zu, lässt sie die Hühner füttern, den Tisch abräumen, auch mal alleine spielen und denkt sich, ach, sowas richtig Dramatisches wird ihnen schon nicht passieren. Sie schreiben gern Heile-Welt- Geschichten, wie etwa die Sommerby- Reihe. Wozu sind diese Geschichten gut? Gerade durch Erfahrungen wie Corona haben auch wir Erwachsenen gemerkt, wie gut es tun kann, für eine Weile in so eine heile Welt abzutauchen. In meiner Kindheit waren die Bullerbü- Bücher, die ja absolute Idyllen sind und Vorbild für meine Möwenweg- Reihe, absolute Trostbücher gewesen. Wenn es mir schlecht ging, habe ich Bullerbü gelesen, dann ging es mir wieder besser. Bücher, die nur meine Kirsten Boie ist eine der renommiertesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr Gesamtwerk, das Bundesverdienstkreuz und die Hamburger Ehrenbürgerwürde. Kirsten Boie engagiert sich in vielen Projekten, die meisten haben mit Kindern zu tun. In Deutschland setzt sie sich vor allem für die Leseförderung und Sprachförderung in Kitas und Grundschulen ein. Wenn es ihr einmal schlecht ging, hat Kirsten Boie in ihrer Kindheit als Trostbücher die Bullerbü- Bände gelesen eigene Situation widerspiegelten, konnte ich da nicht brauchen. Und ich glaube, das ist auch heute so: Wenn meine Mama gestorben ist, brauche ich als Kind nicht unbedingt eine Geschichte, in der ebenfalls die Mutter stirbt, um zu sehen, dass ich nicht alleine bin und so ein Unglück auch anderen passiert. Ich glaube, dem Kind könnte es helfen, wenn es stattdessen etwas Lustiges liest und etwas Idyllisches. Vielleicht etwas später, wenn es möglich war, diese Situation schon etwas zu verarbeiten, dann kann es auch Bücher lesen, die dieses Erlebte reflektieren. Das ist wie mit einem Beinbruch – da muss der Knochen auch erstmal gestützt und geschient werden, damit er heilen und bevor er wieder belastet werden kann. So ist es mit allen traurigen Dingen, denke ich. Und auch mit diesen Heile-Welt-Büchern. Sie sind wie Schienen. Foto: Indra Ohlemutz ZWEI2022 23
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