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frings. Das Misereor-Magazin 2/2022: Mut finden.

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Mut finden: Ein Heft über das Hinfallen, Aufstehen und Weitermachen. www.misereor.de/magazin

In einem provisorischen

In einem provisorischen Gebäude in Kabul werden in einer geheimen Schule Mädchen der 7. und 8. Klasse unterrichtet In einigen Gegenden Afghanistans ist Bildung für Mädchen und Frauen weiterhin möglich, entgegen westlicher Wahrnehmung. Denn es gibt Spielräume, die sich unter den Taliban bieten: Hilfsorganisationen nutzen sie – und Afghaninnen finden sich mit den Einschränkungen nicht ab. Text von Elisa Rheinheimer Fotos von Daniel Pilar 95 Prozent der Bevölkerung hat nicht genug zu essen Mädchen, die in Tränen ausbrechen, geschlossene Schulen, verzweifelte Lehrerinnen: Diese Bilder gingen um die Welt, als die Taliban Ende März nicht wie angekündigt die Sekundarstufen für Schülerinnen wieder öffneten. Stattdessen verlängerten sie die Anordnung, dass Afghaninnen nur bis zum 12. Lebensjahr am Unterricht teilnehmen sollen. Rund 850.000 Mädchen dürfen am Hindukusch laut einer Analyse von Save the Children und UNI- CEF keine weiterführenden Schulen mehr besuchen. Das sind die offiziellen Zahlen – jene, die zum Klischeebild der Deutschen von Afghanistan passen. Reinhard Erös regt sich über diese Berichterstattung auf. Der Entwicklungshelfer und ehemalige Oberstarzt der Bundeswehr kennt Afghanistan; seit über 40 Jahren ist er in dem Land tätig. Er hat andere Erfahrungen gemacht: Mit seiner Initiative „Kinderhilfe Afghanistan“ hat er in den letzten 20 Jahren 30 Schulen in von Taliban dominierten Provinzen gebaut – mit Zustimmung und Unterstützung der Mullahs. Erös ist mit seiner Hilfsorganisation im Osten des Landes aktiv, in der Provinz Laghman. „In allen unseren Mädchenschulen gehen die Mädchen weiterhin bis zur 12. Klasse täglich zum Unterricht. Auch die Ausbildung in unseren Computerklassen, an unseren Berufsschulen und an der Uni verläuft ungestört“, berichtet er. „Ich kann nur für Laghman sprechen“, sagt Erös, „aber dort hat sich die Situation sogar verbessert seit der Machtübernahme der Taliban. Weil die Mädchen auf dem Schulweg keine Angst mehr haben müssen vor den Drohnen und Granaten der Amerikaner. In den vergangenen 18 Jahren sind durch amerikanische Luftangriffe etwa 100 meiner Schüler*innen getötet worden und fünfmal so viele Eltern.“ Nach eigenen Angaben ist Erös der größte private Schulbetreiber in Afghanistan – mit guten Kontakten zu lokalen Stammesältesten und hochrangigen Talibanführern. Rund 65.000 Kinder besuchen seine Schulen, um die 1.600 afghanische Mitarbeiter*innen beschäftigt er, darunter zwei Drittel Frauen – nach wie vor. Die Probleme lägen woanders, meint Erös, etwa in der dramatischen Hungersnot, über die viel zu wenig berichtet werde, und in dem Mangel an Schulen und Lehrkräften. Was Erös erzählt, deckt sich mit den Erfahrungen von Misereor. „95 Prozent der Bevölkerung hat nicht genug zu essen“, sagt Anna Dirksmeier, Afghanistan-Länderreferentin des Hilfswerks. „Wie leistungsfähig können Schülerinnen und Schüler da noch sein, wie konzentriert im Unterricht?“ In Bezug auf Bildungsangebote berichtet sie ähnlich Positives wie Erös: „Unsere Frauenzentren laufen weiter.“ Misere- Frauen auf der Straße im Stadtteil Shur Bazar in Kabul. Die Kleidervorschriften werden streng überwacht. 26 ZWEI2022

or betreibt mit seinen Partnerorganisationen Nachhilfezentren, Berufsschulen und Fortbildungen für Lehrerinnen staatlicher Schulen. „All diese Angebote sind explizit auch für Mädchen und Frauen, und das wird von den Taliban toleriert“, sagt sie. Probleme sieht Dirksmeier vor allem in der Vorgabe, dass Mädchen nur von Frauen unterrichtet werden dürfen. „Es ist zum Beispiel im IT-Bereich gar nicht leicht, genügend qualifizierte Lehrerinnen zu finden.“ Ganz so wie früher sei es also nicht, aber die Partner*innen vor Ort hätten es geschafft, die vorhandenen Spielräume zu nutzen. So seien etwa im Norden Afghanistans Taliban in die von Misereor unterstützten Bildungszentren gekommen, um zu überprüfen, ob Mädchen und Jungen separat unterrichtet oder zumindest durch einen Vorhang voneinander getrennt werden. Seien diese Umstände erfüllt, könnten die Zentren aber weiterlaufen. Ist also alles gut in Afghanistan? Natürlich nicht. Hört man Frauen wie Raziya Habibi zu, die 2015 Es gibt noch Bildungsmöglichkeiten für Mädchen: Schulunterricht im Dorf Alisha in der Provinz Wardak von Afghanistan nach Deutschland geflüchtet ist, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Der Großteil von Habibis Familie lebt in Afghanistan. „Wir haben jeden Tag Kontakt und ich frage sie, ob die Schulen wieder auf sind. Aber da passiert gar nichts“, erzählt die Anfangdreißigjährige. Die Bedingungen der Taliban für den Schulbesuch seien hart: Selbst kleine Mädchen dürften nur verschleiert in die Schule gehen. „Viele Kinder wollen das nicht. Meine zehnjährige Nichte geht in die 4. Klasse und ist zusammen mit einigen Freundinnen so zum Unterricht gegangen wie früher: Mit Schuluniform und Kopftuch. Die Taliban haben die Kinder zur Strafe mit Ruten verprügelt. Als Frau darfst du in Afghanistan nur noch atmen, mehr nicht.“ ZWEI2022 27

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