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frings. Das Misereor-Magazin 2/2022: Mut finden.

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Mut finden: Ein Heft über das Hinfallen, Aufstehen und Weitermachen. www.misereor.de/magazin

Selbst junge Mädchen

Selbst junge Mädchen dürften nur vollverschleiert in die Schule gehen, sonst drohen Schwierigkeiten 95 Prozent der Bevölkerung hat nicht genug zu essen. Das hat auch Einfluss auf die Leistungsfähigkeit in der Schule. Wie passen diese widersprüchlichen Erfahrungen zusammen? Beim Versuch, die Puzzleteile zusammenzufügen, ergibt sich folgendes Bild: Für gebildete, westlich orientierte Afghaninnen wie Raziya Habibi und ihre Freundinnen ist die Lage brandgefährlich, besonders für Journalistinnen, Anwältinnen, Politikerinnen und Menschenrechtlerinnen. Mit gutem Grund sind viele von ihnen ins Ausland geflohen oder warten verzweifelt auf eine Chance, das Land zu verlassen. „Ihre Gefährdung darf nicht schöngeredet werden“, betont Dirksmeier. In den großen Städten Afghanistans, wo diese kleine Elite überwiegend lebt, sind die Schulen für Mädchen weitestgehend geschlossen, es geht extrem restriktiv zu. Anders ist es hingegen auf dem Land. Das bestätigt auch Habibi: „Auf dem Land sind die Taliban häufig die Bewohner, und sie wollen selbst, dass ihre Kinder zur Schule gehen“, erklärt sie. „Die größten Probleme haben Frauen in Kabul“, ergänzt Dirksmeier. „Das liegt daran, dass die Jedes Land braucht gebildete Männer und Frauen Stadt von den Taliban leicht zu kontrollieren ist. Die Hardliner, die die Regierung bilden, sitzen dort. Die Hauptstadt ist immer auch eine Visitenkarte der Führung nach außen.“ Hier zeigen die Taliban, dass sie alles anders machen als die Vorgängerregierung – und beim Thema Bildung für Frauen statuieren sie ein Exempel. Diese Praxis ist bisweilen tödlich. Habibi erzählt von einer früheren Nachbarin, die Demonstrationen für die Bildung von Frauen veranstaltet hat. „Die Taliban haben ihr eine Affäre unterstellt. Sie wurde auf der Straße brutal hingerichtet.“ Umso bewundernswerter ist es, welche Stärke die Afghaninnen tagtäglich aufbringen: Die Mädchen, die trotz Schlägen zur Schule gehen oder heimlich in Hinterhöfen unterrichtet werden. Die Frauen, die für ihr Recht auf Bildung auf die Straßen gehen. Die Lehrerinnen, die – zum Teil ohne Bezahlung – weiter unterrichten. „Es ist dem Mut vieler Frauen zu verdanken, dass es weiterläuft“, sagt Anna 28 ZWEI2022

Können sie die Entwicklung in Afghanistan komplett zurückdrehen? Checkpoint der Taliban in Kandahar. Online- Universität für Afghanistan In manchen Regionen Afghanistans ist die Arbeit weiterhin möglich, wenn auch mit Einschränkungen Dirksmeier und nennt ein Beispiel: Offiziell brauchen Frauen männliche Begleitung, wenn sie das Haus verlassen. Also entstand bei einer ihrer Partnerorganisationen die Idee, Bus- oder Rikschadienste zur Abholung einzuführen, damit die Frauen weiterhin die Berufsbildungszentren aufsuchen können. „Aber die Frauen bestanden darauf, wie früher zu Fuß dorthin zu gehen – alleine. Und das tun sie, allen Anweisungen der Taliban zum Trotz.“ Erstaunlicherweise werde das akzeptiert. Anna Dirksmeier zieht deshalb ebenso wie Reinhard Erös den Schluss: In manchen Regionen Afghanistans gibt es noch Bildungsmöglichkeiten für Frauen. „Die Darstellung westlicher Medien, dass Mädchen und Frauen dort gar keine Chance mehr hätten, stimmt so pauschal nicht“, sagt Dirksmeier. „In unseren Partnerregionen ist die Arbeit weiterhin möglich, allerdings mit deutlichen Einschränkungen. Und die Angst, dass die wenigen Spielräume beschnitten werden könnten, schwingt immer mit.“ Ohne die Situation unter den Taliban insbesondere für die weitgehend entmündigten Mädchen und Frauen verharmlosen zu wollen, muss auch die Geschichte der kreativ verteidigten Spielräume erzählt werden – eine Geschichte von Mut, Durchhaltewillen und der leisen Hoffnung, dass sich das Rad in Afghanistan nicht ganz zurückdrehen lässt. Daniel Pilar lebt und arbeitet als Dokumentarfotograf in Hannover für Zeitungen, Magazine, Organisationen und Stiftungen. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Porträt- und Reportage-Fotografie. Seine Arbeiten sind unter anderem in F.A.Z-Magazin, DIE ZEIT, DER SPIEGEL, Le Monde, Neue Zürcher Zeitung, Newsweek, stern und The Washington Times zu finden. 1 2 3 Drei Fragen an Kambiz Ghawami, Geschäftsführer des deutschen Komitees des World University Service Sie wollen afghanischen Frauen und Männern die Möglichkeit bieten, digital zu studieren. Wie soll das funktionieren? Kambiz Ghawami: Vor einem halben Jahr haben afghanische Wissenschaftler*innen im Exil und der World University Service den Aufbau einer Online-Universität beschlossen. Junge Afghaninnen und Afghanen können dort digital studieren; die Lehrkräfte werden in erster Linie afghanische Wissenschaftlerinnen sein, sodass diese eine Chance haben, ihren Beruf weiter auszuüben. Für einen anerkannten Doppelabschluss arbeiten wir mit Partneruniversitäten zusammen. Stellt ein fehlender Internetzugang in Afghanistan nicht eine unüberwindbare Hürde dar? Abgesehen von der vielerorts mangelnden Stromversorgung werden die Taliban von chinesischen Firmen zu Internetsperren und Zensur beraten. Wir arbeiten wiederum mit der chinesischen Zivilgesellschaft zusammen, die weiß, wie Zensur sich kreativ umgehen lässt. Unser Programm richtet sich zudem an Afghan*innen im Exil. Die Internetverbindung in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer ist recht stabil. Wann wird der Studienbetrieb aufgenommen? Wir hoffen, noch in diesem Jahr starten zu können. Wir planen 5.000 Studienplätze ein, für die wir 30 Millionen Euro im Jahr benötigen. 5.000 Studienplätze an einer regulären deutschen Universität sind deutlich teurer. Zur Finanzierung führen wir Gespräche mit der EU-Kommission und hoffen, dass auch die Bundesregierung ausreichend Mittel bereitstellt. Foto: World University Service ZWEI2022 29

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