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frings. Das Misereor-Magazin 2/2022: Mut finden.

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Mut finden: Ein Heft über das Hinfallen, Aufstehen und Weitermachen. www.misereor.de/magazin

Zwischen Tradition und

Zwischen Tradition und Selbstbestimmung: Malis Frauen und Mädchen haben noch einen langen verschont. Drei Generationen leben in Weg zu gehen. neun aus Lehm und Ziegelsteinen errichteten Hütten. Familienoberhaupt Niamanto, 85, mit seiner Frau Tenimba, 65, dazu die vier Söhne mit ihren Frauen und 13 Kindern. Zwei der Frauen wurden schon im Alter von 15 Jahren verheiratet. Eine für Mali durchaus repräsentative Familie. Sie seien alle für die Beendigung der Praxis gewesen, sagt Tenimba. Zwar wisse sie von keinen schweren Komplikationen bei Familienmitgliedern, die „beschnitten“ seien. Aber eine Nachbarin habe schwer unter Geburtsfisteln gelitten, das Baby starb. Im Dorf war das ein Tabu. Das änderte sich erst, als die Tagnè-Aktivisten*innen Fotos von derartigen Fällen zeigten. „Wir wissen nicht, warum in Gôrô überhaupt beschnitten wurde“, sagt Tenimba heute, „wir wissen nur, dass es schon immer so war.“ In dem zu 95 Prozent von Muslimen*innen bewohnten Mali hört man das immer wieder. Eine in Kati verbreitete Theorie zum Ursprung ist, dass sich vor Jahrhunderten Krieger der Treue ihrer Frauen versichern wollten, wenn sie in den Krieg zogen. Schließlich reduziere die Prozedur das sexuelle Verlangen. Auch die Katholikin Niaré betont, dass es sich um eine kulturell bedingte Tradition handele. Im Koran sei davon keine Rede, mit dem Islam habe das nichts zu tun. Doch das ist umstritten. So wird in sunnitischen Hadith- Sammlungen über die Beschneidung von Frauen referiert. Teile der schafiitischen Rechtsschule sehen sie deshalb als verpflichtend an. In Asien wird die weibliche Genitalverstümmelung fast ausschließlich in islamischen Ländern praktiziert. Und in Mali glauben laut einer UNICEF-Umfrage geschlechterübergreifend drei von vier Muslimen*innen, dass Erst soll sich das Verhalten ändern, dann die Gesetze Genitalverstümmelungen von ihrer Religion vorgeschrieben sei. Zudem ist bekannt, dass die überfälligen Gesetze auch von einflussreichen Imamen blockiert werden. Im Jahr 2018 protestierten sie, als das Bildungsministerium ein Programm zur Integration von Sexualkunde in den Lehrplan aufnehmen wollte. Es wurde zurückgezogen. Die engagierte Hilfsorganisation stößt in die wenigen Lücken, die diese Konstellation bietet. Zwar taucht die Genitalverstümmelung nicht im Lehrplan auf, dafür arbeiten die medizinisch geschulten Tagnè-Experten mit einer staatlichen Bildungsreinrichtung für Lehrer*innen zusammen. Dort erzählt ein Lehrer, er denke sich im Mathematikunterricht Rechenaufgaben aus, die das Thema aufgreifen. Im Sinne von: „Hawa war zwei Jahre alt, als sie beschnitten wurde, mit 16 heiratete sie. Wie viel Zeit ist vergangen?“ Daraus entstünden dann die so wichtigen Diskussionen. Malis Regierung fährt bei dem Thema einen widersprüchlichen Kurs. Zwar ist die Verstümmelung trotz der Unterzeichnung entsprechender UN-Konventionen nicht kriminalisiert, aber sie darf nicht mehr in Kliniken vollzogen werden. Damit, so die Logik von Malis Gesundheitsministerium, will man die Abschaffung der Praxis behutsam vorbereiten. Erst soll sich das Verhalten ändern, dann die Gesetze. Am Stadtrand von Kati lebt eine alte Frau, die aus eigener Erfahrung weiß, dass dieser Ansatz nicht funktionieren kann. Aissata Cissé, 65, hat über 200 Mädchen beschnitten. Tagnè hat sie und Dutzende andere „Practiciennes“ zum Ausstieg aus dem Gewerbe überredet und hilft bei Umschulungen. Cissé ist ausgebildete Krankenschwester, verwendete sterile Geräte und Betäubungsmittel. „Ich dachte, ich tue etwas Gutes, weil die Prozedur mit meinem Wissen immerhin sicher war“, sagt sie, „es gab keine Unfälle.“ Zumindest nicht unmittelbar. Erst durch die Hilfsorganisation erfuhr sie vom vollen Ausmaß der Langzeitfolgen. Sie hörte auf. Ihr Gewissen plagt die Frau auch Jahre später noch. „Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich das nicht mehr tun.“ Christian Putsch berichtet seit dem Jahr 2009 mit Schreibblock und Kamera über Afrika. Er lebt als freier Korrespondent in Kapstadt/Südafrika und arbeitet unter anderem für die Welt-Gruppe aber auch die NZZ. Dafür hat ihn seine Reise bislang in rund 30 Länder des Kontinents geführt, wo er neben Print auch Hörfunk und Video-Produktionen bedient hat. 34 ZWEI2022

Souleymane Traoré, 40 Studierter Wirtschaftswissenschaftler in Mali V iele Akademiker in Mali müssen weniger qualifizierte Jobs annehmen oder ohne Zugang zu Bankkrediten eine Existenz gründen. Ich habe vor fünf Jahren einen Laden aufgemacht und verkaufe Lebensmittel und Kleidung. In den letzten drei Jahren sind die Lebensmittelpreise in Mali aber so stark wie nie zuvor gestiegen. Mein Einkommen ist seitdem um zwei Drittel geschrumpft. Vor der Krise habe ich meine Waren von den Großhändlern auf Kredit gestellt bekommen. Das erlauben sie nun nicht mehr. Doch darauf beruhte auch mein jetziges Geschäftsmodell. Denn auch ich gebe Straßenhändlern Waren ebenfalls auf Kreditbasis und verdiene anteilig an deren Verkäufen. Ich versuche das so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, auch wenn ich meine Waren im Voraus bezahlen muss. Ein Risiko ist das. Aber nur so kann ich die Abwärtsspirale unterbrechen. Protokoll: Christian Putsch „Wir müssen improvisieren und oft aus dem Nichts einen Lebensunterhalt schaffen.“ Foto: Christian Putsch ZWEI2022 35

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