Die Menschenrechtlerin Marthe Wandou über die mangelnden Rechte von Mädchen und Frauen im Norden Kameruns und dazu, warum sich ihre Situation dringend ändern muss Das Gespräch führt Katrin Gänsler Fotos von Kathrin Harms Was bedeutet es, im Norden Kameruns Frau zu sein? Marthe Wandou: Als Frau ist man nichts. Man ist niemand innerhalb der eigenen Familie, niemand in der Familie, in die man einheiraten wird. Man muss das machen, was alle anderen wollen. Allerdings konnten Sie der Situation entkommen. Sie haben Jura studiert. Meine Eltern haben meinen Geschwistern und mir den Schulbesuch ermöglicht. Auch bin ich viel in Kontakt mit anderen Menschen gekommen. Durch mein Studium entstand der Plan, etwas zu verändern, damit die Frauen in Kamerun in Zukunft nicht das gleiche durchmachen müssen, wie so viele bisher. 36 ZWEI2022 Gab es Verständnis dafür, dass Sie mit einem abgeschlossenen Jura-Studium in die Frauenrechtsarbeit gehen? Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Druck es gab. Ich war die erste in meiner Familie, die Jura studiert hatte. Man fragte immerzu, warum ich nicht in den Staatsdienst gehe. Die Arbeit für eine Nichtregierungsorganisation sei doch nicht von Dauer. Ehrlicherweise habe ich mich zweimal für den Staatsdienst beworben, wurde aber nicht genommen. Als ich bei einer NGO anfangen konnte, wusste ich: jetzt oder nie. Etwas anderes hat mich nie wieder interessiert. Seit Gründung der Organisation kämpfen Sie gegen die Kinderehe. Haben Sie selbst erlebt, wie Freundinnen als Minderjährige verheiratet wurden? Es war normal, dass Mädchen im Alter von 13 oder 14 Jahren verheiratet wurden. Das ist auch einigen meiner Freundinnen passiert. Sie waren sehr intelligent. Ich bedauere bis heute, dass niemand eingegriffen hat. Heute wären sie in Schlüsselpositionen. Wir haben aber nie darüber gesprochen. Wir wussten: Das Schicksal der Frauen hängt von anderen ab. Hat sich die Situation heute gebessert? Bis heute wird jedes dritte Mädchen vor seinem 18. Geburtstag verheiratet. Tradition und Kultur sind schwierig zu ändern. Es sind auch nicht nur die Ungebildeten, die daran festhalten. Auch gebildete Männer finden Vergnügen daran, ganz junge Mädchen zu heiraten. Es gibt noch eine andere Praxis: Wenn jemand ein junges Mädchen vergewaltigt hat, muss der Täter es zur Strafe heiraten. Auch mit der Religion wird argumentiert: Es heißt, dass ein Mädchen seine erste Menstruation nicht im Elternhaus haben darf. Das gilt als Schande für die Familie. Ist es denn legal, eine Minderjährige zu heiraten? In Kamerun darf keine religiöse Heirat vor der standesamtlichen geschlossen werden. Für Muslime ist die religiöse Heirat aber viel wichtiger. Alles findet informell statt. Es ist für den Staat schwierig einzugreifen. Niemand überprüft etwas. Es gibt aber ein Gesetz
Bis heute wird in Kamerun jedes dritte Mädchen vor seinem 18. Geburtstag verheiratet aus dem Jahr 1981, auf das man sich noch immer beruft: Darin heißt es, dass das Mädchen mindestens 15, der Junge mindestens 18 Jahre alt sein muss. Es ist also schwierig, ein Umdenken herbeizuführen. Es braucht viel Zeit. Wir sprechen viel mit religiösen Meinungsführern. Sie können mit Eltern sprechen und auch eine Heirat verweigern. Ihre Organisation arbeitet auch mit Mädchen und Frauen, die sexuell missbraucht und vergewaltigt wurden. Was bedeutet das für die Opfer? Über Mädchen, die sexuell missbraucht wurden, heißt es: Sie haben der Familie Unglück gebracht. Sie werden überhaupt nicht als Opfer angesehen. Die Familie schweigt, weil sie nicht will, dass das Mädchen die Chance auf einen Ehemann verliert. Auch soll verhindert werden, dass der Vorfall zum Gesprächsthema wird. Im Laufe der Jahrzehnte haben Sie viele Schicksale von Frauen gesehen. Was hat Sie besonders geprägt? Nach meinem Studium habe ich für eine Entwicklungsorganisation gearbeitet und schnell gemerkt, dass Frauen so gut wie keine Entscheidungen treffen dürfen. Sie gehen nicht wählen und denken stattdessen: Mein Mann entscheidet für mich oder mein Bruder oder mein Vater. Ich habe mich gefragt: Wie kann man sein ganzes Leben lang so abhängig von der Entscheidung anderer sein? Wenn Sie das ständig im Alltag erleben, müssen Sie manchmal sehr frustriert sein. Wir erleben Frustration, aber auch die Traumatisierung der anderen. Manchmal denkt man: Dinge ändern sich. Dann hat man wieder den Eindruck, dass Menschen sogar noch gewalttätiger werden. Wenn man sich für eine solche Arbeit entscheidet, muss man auch die Konsequenzen durchleben. Welche zusätzlichen Herausforderungen gibt es neben der prekären Sicherheitslage? Der Klimawandel hat einen großen negativen Einfluss auf die Region. Es gibt einen Kampf um Ressourcen. Es gibt mehr als eine Viertelmillion Binnenvertriebene. Dazu kommen Flüchtlinge aus den Nachbarländern. Auch kehren jetzt jene Personen zurück, die als Anhänger von Boko Haram galten. Alle diese Gruppen brauchen Unterstützung. Vor allem braucht es Bildung. In West- und Zentralafrika verüben Terrorgruppen wie Boko Haram Anschläge. Bewaffnete Gruppen destabilisieren die Region. Welche Lösungsansätze haben Sie? Lokale Initiativen sind wichtig. Ein Ansatz ist es, Menschen auszubilden, die bei Konflikten in ihren Dörfern vermitteln. Auf nationaler Ebene haben wir Frauen, die wir in Führungspositionen für Frieden und Sicherheit arbeiten, Marthe Wandou ist Frauenrechtsaktivistin, Trägerin des Alternativen Nobelpreises und hat 1998 die Organisation „Action Locale pour un Développement Participatif et Autogéré“ (ALDEPA) gegründet. Sie bekämpft Kinderehe und Missbrauch und setzt sich für weibliche Selbstbestimmung ein. einen Zusammenschluss gegründet. Wir setzen uns für ein friedliches Zusammenleben ein. Gewalt löst keine Probleme. Auch die Staaten haben verstanden: Militärische Ansätze alleine reichen nicht aus. Stattdessen müssen die Ursachen für Konflikte analysiert und bekämpft werden. Kathrin Harms ist freie Fotografin und Videojournalistin. Ihre Schwerpunkte sind Reportagen und Porträts zu aktuellen und sozialen Themen. Sie lebt in Berlin, aber ihre Arbeiten führen sie in alle Welt. Ihre Auftraggeber sind überregionale Tageszeitungen und Magazine wie DIE ZEIT, Geolino, DER SPIEGEL und chrismon sowie NGOs, Stiftungen und Unternehmen. ZWEI2022 37
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