Als die junge Fotojournalistin Gauri Gill 1999 ihrem Chef in Delhi eine Reportage über Schulen im ländlichen Rajasthan vorschlägt, winkt dieser ab. Worin läge der Nachrichtenwert, fragt er. Eine Begebenheit, wie sie Fotografinnen aus unterschiedlichen Kulturen bis heute erleben. Doch Gill lässt sich davon nicht abhalten. Sie nimmt eine Auszeit, um sich in der weitläufigen Wüstenlandschaft im Westen Rajasthans von Dorf zu Dorf treiben zu lassen. Sie lernt, sich soweit anzupassen, dass sie schon bald freien Zugang hat – zu den Schulen, aber auch in die Familien und dörflichen Strukturen. Sie schließt Freundschaften, wird zur Chronistin eines wenig beachteten Lebens am Rande der indischen Gesellschaft, ohne sie zu exotisieren – und widmet sich fortan nur noch der Dokumentarfotografie. Gill dokumentiert das sich rasant verändernde Leben Rajasthans und reist zu jeder Jahreszeit in den flächengrößten indischen Bundesstaat. Sie erlebt Dürren und Monsunregen und wie der Klimawandel das Überleben auf dem Land bedroht. Sie folgt dem Jahreskreis der Bäuerinnen und Bauern, befasst sich mit der Abwanderung in die Städte, erlebt die Auswirkungen von Krankheit und Epidemien, überfüllten Krankenhäusern und unterversorgten Schulen. Wenn 42 ZWEI2022 Masken spielen in der Arbeit der jungen Fotografin Gauri Gill zu ihrem neuen Bildband eine entscheidende Rolle. Sind sie auch eine Metapher für Gauri Gills künstlerischen Ansatz? Sonya Winterberg hat sich den Bildband schon vor der Veröffentlichung im Oktober angeschaut. Gill auf ihre Langzeitbeobachtungen angesprochen wird, sagt sie inzwischen, dass es sich genau genommen gar nicht um „Projekte“ handle, sondern um einen Teil ihres Lebens. Das genau drückt ihre Fotografie aus. Es ist nicht die voyeuristische Sicht eines Außenseiters, sondern vielmehr der liebevolle und empathische Blick einer großen Fotografin, die eins wird mit der Welt, in der sie sich bewegt. Dabei entstehen durchaus auch verstörende Bilder, die von den extremen Lebensbedingungen der kargen Landschaft geprägt sind. Gill mutet dies den Betrachtenden zu. In der Serie Acts of Appearance geht die Fotografin einen neuen Weg. Hier kooperiert sie mit indigenen Pappmaché- Künstler*innen in Maharashtra. Statt wie bisher traditionelle Masken für die alljährliche Bohada-Prozession zu fertigen, gab sie ihnen den Auftrag, zeitgenössische Masken zu entwerfen, die sich auf die heutige Lebensrealität beziehen. Das Ergebnis, bei dem sich Fotografie und Performance-Elemente überschneiden, ist eindrücklich. Eine der Fragen, die Gill dabei beschäftigt: Was nehmen wir wahr, wenn wir keine Gesichter sehen, sondern auf Masken schauen? Durch formale Klarheit verbunden mit Empathie für ihre Motive, bringt Gauri Gill uns Indien auf eine neue Weise nah. ACTS OF RESISTANCE AND REPAIR Von Gauri Gill Herausgegeben von Esther Schlicht Broschur, 268 Seiten Deutsch, Englisch, 39,90 Euro
Fotos aus dem bespochenen Bildband, © Gauri Gills ZWEI2022 43
Laden...
Laden...
Follow Us
Instagram
Twitter
Facebook